Business Technology Magazin   2.2016 - Digitale Disruption

Erhältlich ab:  Mai 2016

Autoren / Autorinnen: 
Melanie Feldmann ,  
Gianluca De Lorenzis ,  
,  
Volker Gruhn ,  
Gerrit Beine ,  
Lothar Wieske ,  
Stefan Waschk ,  
Tilman BollerDirk Dorsch ,  
Elena BochkorVeikko Krypczyk ,  
Carola Lilienthal ,  
Markus Wittwer ,  
Christine Bauers

Digitaler Wandel: Das klingt nach dem langsamen Voranschreiten von einem Zeitalter ins nächste. Als wäre die Digitalisierung behäbig und würde huldvoll dazu einladen an ihr teilzunehmen. Deswegen finde ich den Begriff der digitalen Disruption viel treffender. Denn momentan wandeln sich viele Technologien und Märkte nicht, sondern werden gewandelt – und zwar ruckzuck von einem Tag auf den anderen. Netflix bringt Fernsehsender und Filmproduzenten zum Wanken, Tesla rüttelt an den Thronen der alteingesessenen Automobilbauer und Uber bringt Taxifahrer auf der ganzen Welt zum Streiken. Da ist Aufbruch, da ist Veränderung. Und meist kommen die Zerstörer des Bestehenden eben nicht aus den eigenen Reihen, sondern aus dem toten Winkel. Hier kämpfen nicht Erzrivalen gegeneinander, sondern der Underdog gegen den Platzhirsch.

Disruption ist nichts Neues

Dabei entsteht der Eindruck, dass die momentane Disruption einzigartig sei. Die Grundlage für diese Einzigartigkeit sei das Zusammenspiel mehrerer Faktoren: Der weltweiten Vernetzung durch das Internet, der Software, die in immer mehr Bereiche vordringt, und den Produkten, die man in der eigenen Garage drucken kann. Weit gefehlt. Disruptive Technologien brauchen nichts davon. Als die ersten Telegrafenleitungen begannen, den amerikanischen Westen zu durchziehen, haben die Reiter des Pony-Express zwar nicht von Disruption gesprochen, aber es war nichts anderes. Eine neue Technologie (Telegrafie) machte innerhalb kürzester Zeit eine alte (Pferde) überflüssig.

Veränderung ist nie einfach

Was die digitale Disruption der Gegenwart absetzt, ist ihre niedrige Einstiegshürde. Man braucht kein riesiges Startkapital, um mit einer guten Idee und findigen Freunden einen Markt komplett umzukrempeln. Sicher, Geld hilft, sonst hätten die ganzen Venture-Kapital-Geber ja auch nichts zu tun. Aber der Traum, in der Garage zu starten wie Apple und an der Börse anzukommen wie Facebook, ist momentan greifbar wie nie. Und auch diese Vorbilder der heutigen Start-ups waren und sind Disruptoren.

Das heißt für die etablierten Player: Augen auf und mitdenken! Nur weil es früher so war, muss es morgen schon lange nicht mehr so sein. Wenn die Disruption über die Märkte fegt, ist eben nichts gewiss. Momentan ist es deswegen schwierig für ein Unternehmen, den richtigen Weg zwischen Veränderung und dem Beharren auf Bestehendem und Erfolgreichem einzuschlagen.

Lassen Sie sich also von unseren Autoren zur digitalen Disruption inspirieren. Damit Sie den richtigen Draht in ihren Markt und neue Märkte finden.

feldmann_melanie_sw.tif_fmt1.jpgMelanie Feldmann, Redakteurin

E-Mail Web

Digital, disruptiv, Industrie 4.0 und IoT … eigentlich mag man es gar nicht mehr hören. Rauf und runter wetteifern die Medien mit immer neuen reißerischen Titeln: „Wir verschlafen die Entwicklung“, „Wir verspielen den Standort“. So oder so ähnlich klingen die Kassandrarufe. Vielleicht führt aber eher der Schwall an Bezeichnungen und die Unschärfe ihrer Verwendung zur Abstumpfung potenzieller Empfänger. Deswegen will dieser Artikel das begriffliche Gerüst etwas ordnen. Denn die digitale Disruption ist da. Sie wächst, dringt immer weiter vor und beschleunigt unser aller Leben.

Warum störe ich mich an digitaler Transformation? Weil dem ein Vorher/Nachher innewohnt – vor der Transformation und nach der Transformation. Und weil es auch weichspült. Es geht ja nicht nur darum, dass sich etwas verändert. Es wird zwar einerseits verändert aber andererseits auch zerstört und ganz anders neu erschaffen. Eben dieser zerstörende und verstörende Gesichtspunkt schürt menschliches Unbehagen und bringt Ängste und Widerstand hervor. Darüber muss man reden.

Warum störe ich mich an Industrie 4.0? Darin steckt abkürzend eine Viererkette für die industrielle Produktion: Mechanisierung – Elektrifizierung – Automatisierung – Digitalisierung. Eigentlich ist es ja nicht schlecht, historische Entwicklungslinien deutlich zu zeichnen. Es birgt aber auch die Gefahr, einen Übergang zu glätten, wo er sich entscheidend abhebt. Es geht ja immer weniger um analoge, materielle oder physikalische Produkte. Es geht um Dienste und Erlebnisse in digitalen Märkten; das Konzept der Industrie 4.0 beschreibt da nur einen eher kleinen Ausschnitt.

Warum störe ich mich an Internet of Things? Das Gespann Big Data/Cloud/Mobile/Social ist auch bekannt als „Nexus of Forces“ (Gartner) oder „3rd Platform“ (IDC). Daneben tritt jetzt als „Fünftes Element“ das Thema IoT – die massenhafte Vernetzung von Dingen und letztlich auch Menschen. Überall wird es Sensoren und Aktoren mit lokaler Rechen- und Speicherleistung sowie lokaler und globaler Vernetzungsleistung geben. Hier gilt es Ebenen zu unterscheiden. Big Data/Cloud/IoT/Mobile/Social bilden zentrale technologische Eckpfeiler für die unternehmerische, staatliche und gesellschaftliche Digitalisierung (digitale Disruption).

Disruptive Innovation

Der Dow Jones Industrial Average ist das bekannteste Börsenbarometer der USA. Er wurde im Jahr 1896 von Charles Henry Dow eingeführt und listete ursprünglich zwölf ausgewählte US-Unternehmen. Heute umfasst der Dow Jones Industrial die dreißig bedeutendsten, marktführenden Unternehmen an der amerikanischen Börse und spiegelt deren Kursentwicklung wider. Im Jahr 1896 war General Electric eines der zuerst gelisteten Unternehmen im Dow-Börsenindex; es ist heute das einzige Unternehmen, das nach 118 Jahren noch beziehungsweise wieder im Dow vertreten ist. Denn auch für General Electric gab es Unterbrechungen.

Richard Foster von der Yale School of Management hat herausgefunden, dass die durchschnittliche Lebensspanne von Unternehmen im Standard-&-Poor’s-Börsenindex (S&P) der Vereinigten Staaten von durchschnittlich 67 Jahren in den 1920ern auf etwa fünfzehn Jahre in den 2010ern gefallen ist. Foster hat ebenso herausgefunden, dass heutzutage etwa alle zwei Wochen ein Unternehmen im S&P-Index ersetzt wird: Und so schätzt er, dass 75 Prozent der heutigen S&P-500-Unternehmen durch neue Unternehmen bis zum Jahr 2027 ersetzt werden.

Clayton Christensen ist Professor für Wirtschaftswissenschaft an der Harvard Business School. Er erforschte in den 1990er Jahren, warum und wie Unternehmen scheitern. Christensen fand einen Erklärungsansatz für die Mechanismen hinter solchen unternehmerischen Abstiegen und nannte ihn „Disruptive Innovation“. Disruptive Innovationen beginnen im Kleinen, schaffen aber auf längere Sicht neue Märkte und Wertschöpfungsnetze mit neuen Produkten und Diensten, die die bisherigen Strukturen einer Branche aufbrechen und ihren Unternehmen erhebliche Marktanteile abringen und sie verdrängen.

Die eingesessenen Unternehmen (Incumbents) ruhen sich oft auf ihren Lorbeeren aus und erfüllen einseitig die Bedürfnisse ihrer großen und wichtigen Kunden; insbesondere achten sie zu wenig auf Neuentwicklungen und mögliche neue Kundenbedürfnisse und Kundensegmente. Die einsteigenden Unternehmen (Entrants) schnappen sich einfach ein wenig erträgliches Kundensegment (Low-end Disruption) oder ein wenig bedientes Kundensegment (New-market Disruption) und werden dort aktiv. Letztlich hat Clayton Christensen zwei Formen der Innovation unterschieden: Sustaining Innovations und Disruptive Innovations.

wieske_disruption_1.tif_fmt1.jpgAbb. 1: Sustaining und Disruptive Innovation [1]

Sustaining Innovation hilft den Eingesessenen, ihre Produkte in kleinen oder größeren Sprüngen immer besser zu machen. Mit Disruptive Innovation schaffen die Einsteiger zunächst mal eine Sichtbarkeit im weniger marktrelevanten Bereich und räumen dann das ganze Feld auf – ihre Angebote werden aber irgendwann auch für die Schlüsselkunden der Eingesessenen interessant. Spätestens dann geht es für die Eingesessenen um die Existenz.

Für die Neuen ist das Leben vergleichsweise einfach. Die stürmen von einem Erfolg zum nächsten. Aber die Alten sind ja schon gefühlt gut am Markt unterwegs. Daran wollen die Stakeholder und Shareholder auch bitte schön festhalten. Wann also vom Alten schrittweise abspringen und ins Neue nach und nach einsteigen? Es gilt Stabilität zu wahren und gleichzeitig Agilität zu entwickeln, um bei Disruption(en) entschlossen und schnell handeln zu können (reaktiv) und oder sie als Macher sogar selbst anzuschieben (proaktiv). Clayton Christensen hat in seinem Artikel klar konstatiert. „Every company that tried to manage mainstream and disruptive businesses within a single organization failed“.

Digitale Güter mischen den Markt auf

Die klassische Betriebswirtschaft beschäftigt sich mit Gütern als Mittel zur Bedürfnisbefriedigung. Digitale Güter sind immateriell und bestehen aus digitalen Daten. Informationsgüter sind digitale Güter, die an ein Trägermedium gebunden sind. Schon heute gibt es große Anteile an digitalen oder digitalisierbaren Gütern – quer durch alle Branchen und im stetigen Wachstum. Nur vollständig digitale Güter sind Kandidaten für eine vollständig digitale Produktion und Distribution. Zwei Beispiele: Die Liste der iPhone-Opfer enthält prominente Namen: Motorola, Nokia, RIM, Sony-Ericsson. In den 1990ern und 2000ern waren sie die Marktführer. Heute sind sie übernommen worden, ringen um Marktrelevanz oder ums Überleben. Das iPhone war als neues Smartphone gar kein Überflieger. Die Flaggschiffe von Nokia und RIM waren einfach besser. Die Marktanalysten waren sich einig: Eine weniger gelungene Sustaining Innovation auf dem Gebiet der Smartphones. Aber das iPhone war und ist eine mehr als gelungene disruptive Innovation auf dem Gebiet der Laptops. Es konkurrierte gar nicht mit den Funktionen guter Smartphones, sondern brachte tragbares Rechnen und tragbares Internet mit einem guten Touchscreen in Freizeit und Arbeitswelt vieler Menschen. Seine Architektur öffnete die Tür für weitere Ökosysteme: App Store und iTunes. Und damit war das iPhone eine digitale Plattform für Anwendungen und Medien mit krassen Wachstumszahlen.

Das zweite Beispiel ist Netflix. Netflix hat sicher einen Löwenanteil am Niedergang des früheren Riesen amerikanischen Videoverleihs Blockbuster. In der Spitze hatte Blockbuster über 5 000 Filialen in Amerika und außerhalb der USA über 3 000. Im Jahr 2010 meldete Blockbuster seine Insolvenz an, und im November 2013 wurde bekanntgegeben, dass auch die letzten 300 Filialen in Amerika geschlossen und 2 800 Mitarbeiter entlassen werden sollen. Nach dem Videoverleih wandte sich Netflix dem Mediastreaming zu und ist dort ebenfalls erfolgreich und expandiert. Netflix hat jetzt die Branche Fernsehen ins Visier genommen und macht sich daran, es anders zu erfinden.

Netflix hat früh erkannt, dass das Betreiben von Rechenzentren nicht zu den eigenen Kernkompetenzen gehört. Deswegen ist Netflix schon früh ein guter und großer Kunde von Amazon Web Services geworden. Auf Technologiekonferenzen haben immer mehr Mitarbeiter über die Bausteine der Infrastruktur vorgetragen, die Netflix für seine Cloud einsetzt. Das bringt Aufmerksamkeit, und viele Informatiker sehnen sich mittlerweile nach dem Ritterschlag, bei und mit Netflix im eingeschworenen Team an Microservices, coolen Open-Source-Themen und Digitalisierung arbeiten zu können.

Wer gerne Zahlen, Daten, Fakten sehen möchte: Netflix dominiert das Streaming. Zur Spitzenzeit am Abend entfallen auf Netflix mehr als 37 Prozent des Downstreams im amerikanischen Internet. Die Nummer 2 hinter Netflix ist die Videoplattform YouTube mit mehr als 17 Prozent. Alle anderen kommen nur auf Prozentzahlen im einstelligen Bereich. Auch wirtschaftlich ist das Unternehmen äußerst erfolgreich. Mit dem heutigen Börsenwert von etwa 40 Milliarden Euro hat Netflix in den letzten drei Jahren eine Steigerung von fast 375 Prozent hingelegt.

Im Sog des digitalen Wirbelsturms

In einer Studie mit dem Titel „The Digital Vortex: How Digital Disruption is Redefining Industries“ vom Global Center for Digital Business Transformation (Initiative von Cisco und dem International Institute of Management Development) befragten die Autoren rund 950 Entscheider aus zwölf Branchen und dreizehn Ländern. Sie erarbeiteten eine Art Zieleinlauf der digitalen Disruption aufgrund des geschätzten Risikos einer früheren oder späteren Disruption auf Basis der Einschätzungen aus den Interviews. Aufgrund der digitalen Disruption werden sich schätzungsweise 40 Prozent der Unternehmen in jeder der untersuchten Branchen innerhalb der kommenden fünf Jahre in einem völlig veränderten Wettbewerbsumfeld wiederfinden. Am stärksten betroffen sind Technologieunternehmen. Darauf folgen Medien und Unterhaltung (Streaming, TV), der Einzelhandel (Amazon) und Finanzdienstleistungen (Blockchain, FinTech).

wieske_disruption_2.tif_fmt1.jpgAbb. 2: Der Sog der digitalen Disruption (Quelle: Global Center for Digital Business Transformation, [2])

Der digitale Wirbelsturm macht klar, dass es nicht etwa um einzelne Produkte wie etwa iPhone oder um einzelne Firmen wie etwa Netflix geht. Es geht um viel, viel mehr. Es geht um ganze Branchen und Märkte. In die Luft gesogen, durcheinandergewirbelt und nach dem Aufprall kaum mehr wiederzuerkennen.

Digitale Spielregeln

Dabei werden bisherige ökonomische Konzepte und Prinzipien ganz wesentlich verändert. Ein Unternehmen wie Netflix disrumpiert nicht nur einmal. Der Reihe nach expandiert es in verschiedene Branchen, indem es bisher oft beschworene Kernkompetenzen loslässt und stattdessen eine Art Metakompetenz digitale Disruption erwirbt. Mit dieser Metakompetenz funktioniert die Branche nicht mehr entlang der klassischen Wettbewerbsprinzipien nach Michael Porter. Es geht nicht mehr darum, dass sich ein Start-up als Neueinsteiger entlang ausgetretener Pfade behaupten muss. Vielmehr kommen die Eindringlinge und Angreifer von der Seite. Sie fangen klein und unscheinbar an und bleiben deswegen oft genug unerkannt: Low-end Disruption oder New-market Disruption. Beide Merkmale kennzeichnen disruptive Innovation und bilden gleichzeitig ihren Tarnmodus und Eindringprinzip.

Eine Vierergruppe von Unternehmen hat ihre Metakompetenz digitale Disruption in kongenialer Meisterschaft zur Blüte gebracht: Google, Amazon, Facebook, Apple. Abgekürzt wird das auch als GAFA, und die neuen Prinzipien des Wirtschaftens mit digitaler Disruption werden mit dem Kunstwort GAFAnomics umschrieben [3]. In Kürze sind die entscheidenden Prinzipien der GAFAnomics:

  • Zweiseitige Märkte: Digitale Märkte funktionieren oft als zweiseitige Märkte oder digitale Plattformen. Es geht nicht mehr um den linearen Austausch zwischen Verkäufer (Hersteller) und Käufer, sondern um ganze Netzwerke aus Nutzenbeziehungen. Einkaufszentren sind ein Beispiel: Diese werden mit weiteren Läden und weiteren Kunden immer interessanter.

  • Erlebnisse: Es geht schon jetzt immer weniger um Produkte. Die Service-Economy hat längst Einzug gehalten, und Unternehmen wie Starbucks zeigen, wie mit Erlebnisgastronomie der Aufbruch in eine Experience-Economy funktioniert. In digitalen Märkten haften Nutzenbeziehungen nicht mehr am Produkt, sondern es formen sich viel eher Geflechte von Nutzenbeziehungen – Erlebnisse. Es geht dann um digitale Dienste und zunehmend um digitale Erlebnisse mit immer stärkerem Digitalisierungsgrad.

  • Kunden: Klassische Kunden sind Käufer und Zahler: Sie sind damit eine Seite des Tauschgeschäfts Ware-gegen-Geld. In digitalen Märkten geht es allgemeiner um Nutzenbeziehungen und damit Nutzer. Digitale Plattformen verallgemeinern den Kundenbegriff: Kunde ist, wer Nutzen zieht oder Nutzen beiträgt. Bei Amazon sind das dann beispielweise alle Leser oder Schreiber von Rezensionen.

  • Grenzkosten: Beim digitalen Wirtschaften verschwinden zunehmend die Grenzkosten, d. h. die Kosten für eine zusätzliche Einheit. Und das ist auf einer digitalen Plattform einfach ein zusätzliches oder weiteres Erlebnis – ein Nutzen. Da kann der Herr Marx aber einpacken mit seinem Eigentum an Produktionsmitteln. Im digitalen Markt kostet immer mehr immer weniger, und das ermöglicht auch exponentielles Wachstum und macht GAFA so erfolgreich.

Digitale Disruption funktioniert nach den Prinzipien disruptiver Innovation. Sie erfasst über kurz oder lang sämtliche Branchen und Märkte und baut sie in nicht vorhersehbarer Weise um. Dabei geht es nicht so sehr um einen erhöhten Digitalisierungsgrad in Produktion und Distribution – „Leute, macht mehr SAP.“ –, sondern viel mehr um die Gestaltung und das Verständnis digitaler Erlebnisse und digitalen Nutzens. GAFA (Google, Amazon, Facebook, Apple) hat es vorgemacht: Es geht um die Metakompetenz digitale Disruption. Dieser Komplex aus Erfahrungen, Fähigkeiten und Kenntnissen entsteht nicht durch einfache Nachahmung. Der damit verbundene Aufbau braucht Zeit, und er bedarf auch und gerade des Abbaus. Vielleicht tun sich deswegen die New Kids On The Block so viel leichter damit. Denn die eingesessenen Unternehmen müssen einen menschlich ausbalancierten Umgang mit dem gleichzeitigen Aufbau und Abbau gestalten. Es geht schließlich auch um den Abbau von Erfahrungen und Kenntnissen. Damit gehen unterschiedliche Menschen unterschiedlich um: Es fällt ihnen leichter oder schwerer, oder sie brauchen kürzer oder länger. Die Angst vor Neuem, Unbekanntem und Unklarem braucht klare Perspektiven, warum und wie Veränderung möglich und nötig ist, was sich ändern kann/muss, und wohin es eigentlich geht. Dabei sollten auch und gerade Führungskräfte den eigenen Ängsten und Unklarheiten begegnen – nicht zuletzt auch, um mit den Mitarbeitern in einen offenen und ehrlichen Dialog zu treten.

wieske_lothar_sw.tif_fmt1.jpgLothar Wieske ist Cloud Architect. Ihn interessiert das Zusammenspiel von Cloud/Data/IoT/Mobile/Social und digitaler Disruption als Bindeglied und Wirkmechanismus. Mal schauen, was Augmented Reality, Bionics, Blockchain und Cognitive Computing demnächst noch so bringen.

Wie können Sie es schaffen, dass Ihr Unternehmen mutig mit den Ideen und Techniken aus New Work und Agilität experimentiert und zügig etabliert, was erfolgreich ist? Innere emotionale Kompetenzen bei möglichst vielen Mitarbeitern und Führungskräften sind entscheidend, um solche Veränderungen schnell und nachhaltig in der Organisation umzusetzen. Das bei Google entwickelte Seminarprogramm Search Inside Yourself bildet Teilnehmende in genau diesen Fähigkeiten aus.

Betrachtet man die Diskussion um New Work, so werden zum einen die treibenden Kräfte aufgezeigt, z. B. das Ende der Trennung von Handelnden (den Arbeitern) und Denkenden (dem Management), disruptive Veränderungen, Komplexität und Vernetzung im Markt und der Wertewandel der Generation Y. Zum anderen werden Antworten diskutiert: Der notwendige Kulturwandel, die Auswirkungen auf die Aufbau- und Ablauf­organisation (z. B. Netzwerkorganisation, Holacracy) und die diversen Praktiken, die in agilen/New-Work-Organisationen gelebt werden [1], [2].

Ich möchte hier einen seltener beleuchteten Aspekt dieses Veränderungsprozesses betrachten: Was kann ich als Individuum lernen, um in dieser sich verändernden Arbeitswelt erfolgreich zu sein und Zufriedenheit zu finden? Und wie kann eine Organisation dieses individuelle Lernen fördern, um so in der Konsequenz veränderungsbereiter zu werden?

Meine These: Neben neuen Organisationsformen und neuen sozialen Technologien der Zusammenarbeit braucht eine Veränderung hin zu New Work und Agilität auch die Weiterentwicklung persönlicher Kompetenzen. Erst wenn diese Kompetenzen bei einer kritischen Masse von Mitarbeitern entwickelt sind, kommt die Organisation über die Anwendung agiler Techniken und Praktiken von New Work hinaus und fängt an, Agilität zu leben. Erst so entstehen nachhaltig erfolgreiche, dynamikrobuste Unternehmen mit begeisterten Kunden und Mitarbeitern.

Die gute Nachricht: Diese persönlichen Kompetenzen sind erlernbar und zwar durch die Weiterentwicklung emotionaler Intelligenz. Obwohl das Konzept der emotionalen Intelligenz aus den 1990er-Jahren stammt, hat man erst in den letzten zehn Jahren verstärkt herausgefunden, wie diese basierend auf neurowissenschaftlichen Erkenntnissen systematisch entwickelt wird.

Was ist emotionale Intelligenz?

Wissenschaftlich wurde emotionale Intelligenz 1989 definiert [3], popularisiert hat das Konzept 1996 dann Daniel Goleman mit seinem Buch „Emotional Intelligence“ [4]. Goleman unterteilt emotionale Intelligenz in fünf Kompetenzen:

  • Selbstwahrnehmung: Meinen eigenen emotionalen Zustand, emotionale Muster und Präferenzen zu kennen und erkennen zu können. Diese Kompetenz ist der Schlüssel für die weiteren vier Kompetenzen.

  • Selbstregulation: Mit den eigenen Emotionen geschickt umgehen zu können, sie zu managen. Konkret bedeutet dies, den eigenen Gefühlen nicht ausgeliefert zu sein, sondern sie als Hinweisgeber auf unerfüllte Bedürfnisse und als Sprachrohr für Intuition zu nutzen.

  • Motivation: Anhand meiner Emotionen zu erkennen, wann mich etwas motiviert. Mit Erfolgen und Rückschlägen angemessen umgehen zu können.

  • Empathie: Vermuten und spüren können, wie es anderen Menschen geht.

  • Soziale Fähigkeiten: In sozialen Situationen mit eigenen und anderen Emotionen geschickt umzugehen, um z. B. Einfluss zu nehmen, schwierige Gespräche zu führen, Konflikte zu meistern und Vertrauen aufzubauen.

Doch warum ist emotionale Intelligenz in einem agilen Unternehmen nun besonders wichtig?

Zusammenarbeit in crossfunktionalen Teams

Agilität ist ein Ansatz, der direkte Zusammenarbeit (Kollaboration) in heterogenen, crossfunktionalen Teams präferiert. In einer Organisation, die sich auf den Weg zu mehr Agilität macht, arbeiten also plötzlich Menschen direkt zusammen, die dies vorher nicht getan haben. Die Informatikerin arbeitet mit der Kundenvertreterin zusammen, der Betriebler mit dem Kanban-Coach. Man trifft auf Menschen, die ganz anders sind als man selbst. Das führt dazu, dass Konflikte auftreten können und Emotionen ausgelöst werden. Und genau da hilft es, diese aufkommenden Emotionen und etwaigen Vorurteile wahrzunehmen und sie in eine Konfliktklärung einzubringen.

Andersartigkeit ist aber nur einer der Auslöser für Emotionen und Konflikte. Ich erlebe in meiner Arbeit als agiler Coach regelmäßig, dass die Anzahl sichtbarer Konflikte in einer Organisation zunächst steigt, wenn sie anfängt, Agilität umzusetzen. Konflikte, die in einer bestehenden Organisation bereits vorhanden waren, jedoch nicht ausgetragen wurden, kommen im direkten Kontakt auf einmal ans Tageslicht: Früher konnte man über Tickets und E-Mails miteinander kommunizieren oder die Führungskraft einschalten, um dann mit einigen Wochen Wartezeit eine Entscheidung zu bekommen – jetzt sitzt man in einem Raum und arbeitet gemeinsam an einer Lösung. Damit kommen Konflikte direkt auf den Tisch und werden damit überhaupt erst bearbeitbar. All dies erfordert jedoch Selbstwahrnehmung, Selbstregulation und Empathie von den Beteiligten.

Selbstorganisation in Meetings

In einer agilen Organisation werden viele Entscheidungen den Menschen überlassen, die die Arbeit letztlich machen. Dies bedeutet auch, dass es in Teams mehr auszutauschen und zu entscheiden gibt. Ich erlebe häufig z. B. in Backlog-Pflege-Meetings Entwickler, die mit sprühendem Enthusiasmus die technischen Details einer Lösung diskutieren, obwohl es erst einmal darum gehen sollte, die Kundenanforderung überhaupt zu verstehen. Selbstregulation hilft dabei, dass man es schafft, nicht einfach seinen Impulsen schnurstracks zu folgen – hier die Begeisterung, an technischen Lösungen zu tüfteln –, sondern abzuschätzen, ob gerade der passende Moment dafür ist. Je mehr Personen in einer Besprechung genau diesen Reflexionsprozess bewältigen, desto effizienter kann Teamarbeit ablaufen.

Mir geht es dabei nicht darum, Begeisterung für Technik oder gute Ideen zu unterdrücken – im Gegenteil, ich glaube, dass es für Organisationen notwendig ist, (Zeit-)Räume zu schaffen, wo diese Begeisterung ausgelebt wird – für selbstorganisierte Teams ist es jedoch entscheidend, zu wissen, wann gerade der richtige Moment dafür ist und wann eben nicht.

Teamarbeit braucht Vertrauen

Die fundamentale Grundlage funktionierender Teamarbeit ist Vertrauen [5]. Eine der Grundaufgaben einer Führungskraft und allen Beteiligten im Team ist es daher, Vertrauen zu stiften. Vertrauensaufbau funktioniert nicht so, wie die meisten Führungskräfte es versuchen zu tun, indem gesagt wird: „Ihr könnt mir vertrauen, ich stehe hinter euch; wenn ihr Unterstützung braucht, steht meine Tür immer offen.“ Das ist durchaus hilfreich, aber viel wirkungsvoller entsteht Vertrauen dadurch, dass man sich selbst menschlich zeigt und zum Beispiel um Hilfe bittet: „Ich bin noch unzufrieden mit meiner Präsentation vor dem Vorstand morgen. Kann mir einer von euch helfen, indem er mir Feedback dazu gibt?“ Das tun zu können, erfordert jedoch, die möglichen unangenehmen Gefühle auszuhalten, die mit dem Sich-öffnen und dem Um-Hilfe-bitten einhergehen.

Souverän mit Unsicherheit umgehen

Agile Unternehmen gehen grundlegend anders mit Unsicherheit um. Agilität ist die Antwort auf ein komplexes Umfeld, zu dem Unsicherheit unausweichlich dazugehört. In einer komplexen Umgebung geht man dynamisch mit Unsicherheit um, indem man Experimente durchführt, die einem zeigen, ob man dem gewünschten Zielraum näher kommt. Die meisten Unternehmen haben jedoch (Projekt-)Managementausbildungen und -prozesse etabliert, die auf ein kompliziertes Umfeld ausgerichtet sind. In einem komplizierten Umfeld kann Unsicherheit durch eine gute initiale Planung und viel Expertenwissen stark reduziert werden. Das Cynefin-Framework [6] gibt Ihnen mehr Hintergrundwissen über diese Unterscheidung.

Wenn Herangehensweisen aus dem komplizierten Umfeld auf agile Prozesse stoßen, wird versucht, Unsicherheit weitgehend zu eliminieren. Das habe ich vor einiger Zeit bei einem Kunden erlebt: Eine Führungskraft beauftragte den Product Owner eines Projekts damit, erst einmal alle Anforderungen detailliert aufzuschreiben, damit man einen Überblick bekomme und alles sicher schätzen könne. Wenn der Product Owner das getan hätte, wären wir wieder beim alten Wasserfallvorgehen.

Das Problem ist allerdings, dass eine Änderung der (Projekt-)Managementprozesse und eine inhaltliche Schulung der Mitarbeiter nicht ausreicht. Auch in meinem Beispiel hatte die Führungskraft an einer Einführung in Agilität teilgenommen und die Prinzipien von Agilität inhaltlich auch verstanden. Der Knackpunkt dabei ist: Unsicherheit auszuhalten, fühlt sich erst einmal unangenehm an. Versucht man also (natürlicherweise) zunächst das unangenehme Gefühl wegzumachen, indem man die Unsicherheit auflöst, fällt man zwangsweise in alte, bereits bekannte Verhaltensmuster zurück. Eine nachhaltig wirksame Veränderung von Verhaltensweisen ist damit nicht möglich.

Die Einführung von Agilität kann kein ausschließlich kognitiver Prozess sein, durch den wir lernen „anders zu denken“, sondern muss auch begleitet davon sein, sich Fähigkeiten anzueignen, mit einer sich verändernden emotionalen Welt umzugehen. Auch hier sind Selbstwahrnehmung, Selbstregulation und Empathie die Grundbausteine, um mit Unsicherheit – bei sich selbst und im Team – umgehen zu können.

Der Search-Inside-Yourself-Weg

Wie fördert man nun emotionale Intelligenz? Google hat dazu ein Schulungsprogramm entwickelt, dass sich Search Inside Yourself (SIY) nennt. Als zertifizierter Trainer für SIY unterstütze ich Unternehmen bei der systematischen Entwicklung von emotionaler Intelligenz für Führungskräfte, Wissensarbeiter und Entwickler, die in komplexen Arbeitsumgebungen arbeiten.

Das Programm ist bereits seit Jahren als Fortbildung innerhalb von Google für Google-Mitarbeiter etabliert. Vor einigen Jahren überzeugte Chade Meng-Tan, langjähriger Mitarbeiter und Hauptentwickler des Programms, Google, das Programm nach außen zu öffnen und gründete gemeinsam mit anderen das Search Inside Yourself Leadership Institute [7]. Das gleichnamige Buch [8] gibt einen guten Überblick, auch wenn das Programm mittlerweile weiterentwickelt wurde.

Das Programm ist als zweitägiges Präsenztraining aufgebaut, mit einer anschließenden vierwöchigen Begleitung über E-Mail und Webinar. Die grundlegende Annahme ist, dass sich der Geist und der Umgang mit Emotion in ähnlicher Weise trainieren lassen wie unsere Muskeln, wenn wir joggen oder in ein Fitnessstudio gehen.

SIY entwickelt emotionale Intelligenz schwerpunktmäßig über Achtsamkeitspraktiken basierend auf neuen neurowissenschaftlichen Erkenntnissen. Im ersten Schritt geht es darum, die eigene Aufmerksamkeit fokussiert ausrichten zu können. Diesen Fokus kann man dann nutzen, um verstärkt Körperwahrnehmungen wahrzunehmen, die die Basis von Emotionen sind, und emotionale Zustände selbst. Mittels dieser und anderer Praktiken wird Selbstwahrnehmung trainiert und damit die Grundlage für die emotionalen Kompetenzen wie Selbstregulation, Motivation und Empathie gelegt.

In den letzten Jahren wurde verstärkt begonnen, die Auswirkungen von Achtsamkeitspraktiken auf emotionale Intelligenz zu erforschen. Auslöser für diese Forschung waren die Fortschritte bei den bildgebenden Verfahren in der Gehirnforschung, die es erlauben, dem Gehirn quasi bei der Arbeit zuzuschauen. Damit konnte man das Phänomen der Neuroplastizität genauer untersuchen. Neuroplastizität bedeutet, dass sich unser Gehirn auch noch im Erwachsenenalter verändert und selbst umbaut. Das geschieht in Abhängigkeit davon, wie es benutzt wird, also stellt sich die Frage, auf welchen Wegen man diesen Umbau im Gehirn in einer für die Person hilfreichen Weise beeinflussen kann. Achtsamkeit hat sich dabei als ein bemerkenswertes Forschungsfeld herauskristallisiert (Abb. 1).

wittwer_siy1.tif_fmt1.jpgAbb. 1: Veröffentlichungen mit dem Wort „Mindfulness“ im Titel in der wissenschaftlichen Metadatenbank PubMed

Ein Beispiel für den Einfluss von Achtsamkeit auf emotionale Intelligenz ist die Studie von Julie Brefczynski-Lewis [9] an der West Virginia University, die gezeigt hat, dass Menschen mit einer soliden Achtsamkeitspraxis sogar evolutionsbiologisch alte Teile des Gehirns beeinflussen können. In der Studie geht es um die Amygdala, ein Teil des Gehirns, der vor allem daran beteiligt ist, im Falle einer vermuteten Gefahr den Körper in Kampf- und Fluchtbereitschaft zu versetzen. Wird die Amygdala stark aktiviert, so werden unter anderem Adrenalin ausgeschüttet und gleichzeitig andere Bereiche des Gehirns wie der präfrontale Kortex heruntergeregelt. Der präfrontale Kortex ist jedoch stark an Prozessen wie logischem, planerischem Denken und an der Sprache beteiligt. Das erklärt neurologisch, was zum Beispiel bei einem hitzigen Meeting oder einer wichtigen Präsentation vor dem Management oder dem Kunden passieren kann, wenn durch den dadurch erlebten Stress die Amygdala aktiviert wird: Plötzlich wird das klare Denken schwieriger oder versagt ganz, die vorbereitete Argumentationskette ist nicht mehr verfügbar oder man geht zum Angriff über. In dem Moment geht es für den aktiven Teil des Gehirns nicht mehr um die Sache, sondern um das „Überleben“.

Die Studie zeigt nun, dass Menschen mit einer Achtsamkeitspraxis auf Reize, die eine Amygdala-Reaktion provozieren, weniger stark reagieren. Das heißt in der Praxis, dass sie ihrem Kampf- bzw. Fluchtinstinkt nicht mehr ausgeliefert sind, sondern ihm widerstehen. Sie bleiben also Frau oder Herr ihres Verhaltens und können sich bewusst entscheiden, wie sie handeln. Diese Studie ist nur ein Beispiel für die vielfältigen Forschungserkenntnisse in diesem Bereich. Einen neurowissenschaftlichen Überblick und Einordnung der verschiedenen Auswirkungen von Achtsamkeitspraxis gibt der lesenswerte Artikel von Britta Hölzel et al. [10]. Das SIY Leadership Institute verfolgt den Stand der Forschung und integriert die Erkenntnisse kontinuierlich in das SIY-Programm.

Warum Kommunikations- und Konflikttrainings oft nicht so wirksam sind, wie sie sein könnten

Der Neurologe Victor Frankl sagte einmal: „Zwischen Reiz und Reaktion gibt es einen Raum. In diesem Raum haben wir die Freiheit und die Macht, unsere Reaktion zu wählen.“ Die emotionale Kompetenz der Selbstregulation ist die Fähigkeit, diesen Raum verlässlich zur Verfügung zu haben.

Die Amygdala ist nun genau ein Teil des Gehirns, der diesen Raum wieder verkleinert oder ganz verschwinden lässt. Falls das körperliche Überleben bedroht ist, ist das auch eine sinnvolle Reaktion. In unserem modernen Leben ist dies jedoch nur noch selten der Fall.

Kommunikations- und Konflikttrainings üben neue konstruktivere Reaktionen ein. In Stressreaktionen ist jedoch durch den Einfluss der Amygdala häufig der Raum zwischen Reiz und Reaktion nicht mehr verfügbar, sodass automatisch alte Verhaltensmuster abgerufen werden. So kommt es, dass die im Seminar erlernten neuen Verhaltensmuster gar nicht wirksam werden. Es ist also wichtig, sowohl neue Reaktionen zu trainieren als auch die Fähigkeit, diese überhaupt abrufen zu können.

Die drei Ziele des Search-Inside-Yourself-Programms

Wie auch bei einem normalen Fitnessprogramm ist es für den Erfolg von SIY entscheidend, dass die Teilnehmer auch nach dem Zweitagesprogramm weiter üben. Ich bezeichne das Programm daher immer als eine „Einführung in das Fitnessstudio für den Geist und die Emotionen“. Diese Einführung ist sehr wichtig, aber wenn man danach nie wieder trainiert, wird sie – wie bei einem regulären Fitnessstudio auch – nur wenig Wirkung haben.

Das Zweitagesprogramm verfolgt daher drei Ziele: Erstens für jeden Teilnehmer eine Grundlage für eine regelmäßige individuelle Praxis zu legen. Dazu werden in den zwei Tagen zu jeder der fünf Kompetenzen emotionaler Intelligenz Übungen vorgestellt und eingeübt, die dann in der individuellen Übungspraxis vertieft werden. Die Grundlage für diese Praxis ist zum großen Teil die Achtsamkeitsmeditation. Zweitens: Das Programm stellt Praktiken vor, die ohne großen Aufwand in den (Arbeits-)Alltag integriert werden können. Die möglichen Übungen können ganz unterschiedlich gestaltet sein. Wenn ich beispielsweise eine Aufgabe meiner To-do-Liste abgearbeitet habe, wende ich den Blick vom Monitor ab, um für einen langen Atemzug nach draußen auf den Baum vor meinem Fenster zu schauen und einfach nur meinen Körper, meine Emotionen und meine Gedanken wahrzunehmen. Häufig habe ich nach dieser Minipause neue Ideen und sehe klarer, welche Aufgabe gerade wirklich wichtig ist – und nicht nur dringend. Das dritte Ziel ist es, eine organisatorische Verankerung anzustoßen, also eine gemeinsame Praxis im Unternehmen zu etablieren. Auch hier gibt es viele Möglichkeiten, wie diese konkret gestaltet werden können. Karen May, Vice President of People Development bei Google, berichtet in diesem Video [11], wie bei Google viele Besprechungen mit einem kurzen Moment der Stille beginnen, in denen jeder ankommen kann und sich auf das Besprechungsziel fokussiert. Besprechungen laufen so weitaus effizienter ab. Bei Google Hamburg treffen sich Interessierte einmal pro Woche zu einer achtsamen Mittagspause (die „gPause“). Ein Teilnehmer aus einem meiner Seminare lädt in seinem Unternehmen zweimal pro Woche zu einer kurzen Achtsamkeitsmeditation ein.

Erkenntnisse aus der Anwendung des Programms

Google hat erste Erkenntnisse aus der Anwendung des Programms veröffentlicht. Teilnehmer des Programms berichteten nach einer achtwöchigen Übungspraxis von deutlich weniger Stress, mehr Wohlbefinden und mehr Fokus bei der Arbeit.

SIY wird in vielen weiteren amerikanischen Unternehmen eingesetzt. In Deutschland ist SAP größter Kunde. Erste Ergebnisse sind in Abbildung 2 zu sehen – SAP hat das Ergebnis so sehr überzeugt, dass sie das Programm auch schon organisatorisch etabliert haben, indem die Position „Director for Mindfulness“ geschaffen wurde.

wittwer_siy2.tif_fmt1.jpgAbb. 2: Erste Ergebnisse aus dem SIY-Programm bei SAP

Für Sie zum Ausprobieren

Falls Sie Interesse haben, Elemente des Programms einmal auszuprobieren, empfehle ich Ihnen mit fünf Minuten Achtsamkeitspraxis am Tag zu starten. Als Hilfe für diesen Start können Sie eine der vielen Meditations-Apps nutzen (wie z. B. Headspace oder Calm), oder Sie laden eine von mir geführte Meditation herunter [12]. Meditieren Sie lieber kürzer (auch 1 Minute ist schon nützlich), dafür aber täglich. Als integrierte Praxis stoppen Sie einfach immer wieder in Ihrem Arbeitstag nach einem sinnvollen kleinen Schritt und nehmen einen achtsamen Atemzug.

Ich freue mich, nach vier Wochen Übung von Ihnen eine E-Mail mit Ihren Erfahrungen zu bekommen.

wittwer_markus_sw.tif_fmt1.jpgMarkus Wittwer arbeitet als agiler Coach und Unternehmenskulturhacker. In den letzten zehn Jahren hat sich sein Blick verstärkt auf die zwischenmenschlichen und inneren Anteile gerichtet, die agiles Arbeiten erfolgreich sein lassen. Ein Baustein davon ist seine Zertifizierung zum Search-Inside-Yourself-Trainer.

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