Sind wir mal ehrlich, der soziale Mittelpunkt eines jeden Unternehmens ist und bleibt die Kaffeemaschine. Forum, Multiplikator und Katalysator professioneller wie auch privater Gespräche und Diskussionen unter Kolleg:innen. Bei einem kleinen Plausch an besagtem Heißgetränkeautomaten, fragte mich ein Kollege, ob er einmal einen Artikel von mir lesen dürfe, und ich gab ihm meine Ausgabe dieses Magazins mit der darin abgedruckten Grünfläche-Kolumne. Nach dem Studium der Lektüre durch meinen Kollegen wurde mein Artikel für lesenswert befunden, allerdings auch mit dem obligatorischen „Aber“ bedacht – ich schriebe doch für ein Magazin für Programmierer:innen, allerdings wären keine Codebeispiele oder Programmieranweisungen in meinem Beitrag. Natürlich hätte ich es einfach abbügeln und auf das Format der Kolumne verweisen können, aber, gerade wenn man wie ich im Bereich User Interface und User Experience unterwegs ist, weiß man konstruktives Feedback sehr zu schätzen. Also werde ich ihn dieser Ausgabe der Kolumne versuchen, Programmierung und das entsprechende Hintergrundwissen zu liefern, um den Gegenstand unseres digitalen Gewerks mit der Thematik dieser Kolumne zu kombinieren. Also frisch ans Werk!
Vielleicht kennt ihr dieses Gefühl, das sich einstellt, wenn ihr ein Kunstwerk, eine Fotografie oder auch ein Logo betrachtet, dass sich euch auf den ersten Blick nicht gleich erschließt. Aber dann: Der Moment, wenn es „Klick“ macht und man sich der Kraft, der Intention und der Tragweite dieser visuellen Repräsentation bewusst wird, ist unbeschreiblich.
Einen wie gerade beschriebenen Effekt hatte ich, als ich zum ersten Mal die „Warming Stripes“ sah. Optisch ansprechend aber mit einer anziehenden Tiefe und dem damit einhergehenden Gefühl, dass da noch mehr ist. Ich wurde zum ersten Mal mit dieser Datenvisualisierung auf einem Zeitschriftencover konfrontiert und dementsprechend einfach war es für mich, durch Lesen des Artikels mehr über dieses schöne Muster zu erfahren.
Ich hole mal etwas aus … Etwa seit dem Beginn der industriellen Revolution ist die globale Durchschnittstemperatur um etwa ein Grad Celsius gestiegen [1]. Ein Grad, was ist das schon? So wild wird’s nicht sein. Seien wir ehrlich, die Zahl allein reißt uns doch nicht wirklich aus den Sitzen. Aber das sollte sie! Denn in Wirklichkeit ist ein Grad Temperatureinstieg in so kurzer Zeit enorm: Als die Erde das letzte Mal so heiß war (und das war vor etwa 120 000 Jahren) haben sich mitten in Europa noch die Flusspferde zum Baden getroffen. Die Erdtemperatur steigt unerbittlich. Wir reden von einer Zeit, als unsere Homo-sapiens-Altvorderen noch in Höhlen lebten, vis-à-vis mit ihrer Neandertaler-Nachbarschaft (populärwissenschaftlich ausgedrückt). Wie schon gesagt, der Anstieg ist enorm und das musste auf einfachem Wege in unsere Köpfe. Keine hochkomplexen zackigen und unverständlichen Diagramme und Graphen waren gefordert, sondern eine optisch ansprechende, leicht verständliche visuelle Repräsentation des globalen Klimaanstiegs seit dem Dampfmaschinen-Big-Bang, oder mit den Worten von Ed Hawkins [2], Professor an der britischen Universität Reading und Erfinder der Klimastreifen: „Wissenschaftler lieben es, sehr komplexe Zahlen für ihre tägliche Arbeit zu erstellen, aber wir müssen viel klarer kommunizieren, wenn wir mit der Öffentlichkeit sprechen. Die Idee war also, all die unnötigen Details wegzulassen und einfach ein Bild zu hinterlassen, das unmissverständlich zeigt, was vor sich geht. Es ist fesselnd. Und wissen Sie, jeder kann einen Blick darauf werfen und verstehen, was vor sich geht.“ Jetzt haben wir schon so viel von den Dingern geredet, da ist es endlich mal Zeit, Streifen zu zeigen (Abb. 1).
Abb. 1: Die Klimastreifen zeigen Temperaturveränderungen
Im Jahr 2017 postete Ellie Highwood, damals Professorin für Klimaphysik an der Universität Reading, auf Twitter ein Foto einer von ihr gehäkelten Erderwärmungsdecke, auf der Farbreihen die durchschnittlichen globalen Temperaturveränderungen im Laufe der Zeit darstellen. Damals hatte sie noch keine Ahnung, dass eine später von ihrem Kollegen – besagtem Ed Hawkins – erstellte grafische Version der Häkeldecke einmal zu einem globalen Symbol für den Klimawandel werden würde [3]. Wovon Ellie Highwood zu diesem Zeitpunkt auch noch keine Ahnung hatte, war, dass bereits 2015 die amerikanische Wissenschaftlerin Joan Sheldon einen Schal gehäkelt hatte, der zum ersten Mal das Muster aufgriff [4]. Wir merken an: Häkeln oder Stricken regt die grauen Zellen an.
Das grafische Design der Streifen ist auf jeden Fall ein voller Erfolg und sie haben ihren weltweiten Siegeszug angetreten. Schon in der ersten Woche nach der Veröffentlichung der Website [5] gab es mehr als eine Million Downloads der Grafik. Jeder konnte für die Welt, die Hemisphären oder die eigene Stadt Klimastreifen erstellen. Im Netz tauchten schon nach kurzer Zeit Dutzende von Beispielen auf, in denen Menschen die Streifen auf Flip-Flops, Krawatten, Schals und auf dem Laufsteg trugen [6] oder sie sogar auf ihr Elektrofahrzeug druckten. Freiburg im Breisgau druckte die Streifen sogar auf eine Straßenbahn [7]. Etablierte Magazine und Zeitschriften zierten ihre Cover mit dem Streifenmuster und auch die LED-Wand am New Yorker Times Square trug Längsstreifen [8], [9].
Was macht die „Magie“ dieses Streifenmusters aus? Die Visualisierung von XKCD wäre doch auch super gewesen [10]? Für Amanda Makulec, Geschäftsführerin der Data Visualization Society (DVS), sind die Streifen eigentlich auch nur eine andere Art der Datenvisualisierung – „YADV: Yet Another Data Visualization“. Das Besondere an ihnen ist, dass sie ein echtes Eigenleben entwickelt haben, meint Makulec [11]. Jeder kann das Muster auf fantasievolle Weise frei nutzen und sich so mit der Botschaft verbinden bzw. die Botschaft transportieren. Der minimalistische Ansatz der Klimastreifen lässt die Daten weniger technisch erscheinen und ermöglicht es uns, das große Ganze zu betrachten und zu reflektieren.
Im Gegensatz zu herkömmlichen wissenschaftlichen Datenvisualisierungen besteht das Streifenmuster nur aus Farben und ähnelt eher einem Barcode als einem normalen Klimadiagramm. „Manche Menschen schalten ab, sobald sie ein Diagramm sehen“, sagt Ellie Highwood. Ihr Kollege Ed Hawkins reduzierte die Farbpalette der „Wollversion(en)“ auf Blau- und Rottöne, die in Wetterkarten allgemein mit Temperaturen in Verbindung gebracht werden. Die Vereinfachung ist der Schlüssel.
„Ein Teil der Bewältigung der Probleme, mit denen wir konfrontiert sind, besteht darin, dieses Thema als Teil unserer alltäglichen Gespräche zu normalisieren, so wie wir über die Wirtschaft, das Gesundheitswesen oder die Politik sprechen“, sagt Ed Hawkins [11]. Fakt ist, die Wissenschaft ist sich einig, dass sich die Welt erwärmt, aber jede Region der Welt erwärmt sich in einem sehr unterschiedlichen Tempo. Die Jahresdurchschnittstemperatur in Deutschland hat sich im Vergleich zum Jahr 1881 um 1,7 Grad Celsius erhöht [12], während Teile der Arktis schon jetzt fast 3 ℃ wärmer sind. Die Klimastreifen können diese Nuance fast sofort vermitteln.
Machen wir uns jetzt an die Wissenschaft hinter den Streifen. Was bedeutet welche Farbe? Die Streifen zeigen die Temperaturveränderung im Verlauf von mehr als einem Jahrhundert. Jeder Balken steht für ein Jahr und ist entsprechend der Differenz zwischen der Durchschnittstemperatur in diesem Jahr und der Durchschnittstemperatur im Referenzzeitraum 1971–2000 eingefärbt. Liegt die Temperatur unter diesem Durchschnitt, wird der Streifen blau eingefärbt. Ist sie höher, wird der Streifen rot (Abb. 2). Hier gibt es allerdings eines zu beachten: Das dunkelste Dunkelblau und das dunkelste Dunkelrot stellen die Temperaturextreme für eine bestimmte Region während des im Diagramm angegebenen Zeitraums dar und nicht unbedingt hohe oder niedrige Temperaturen. Es stellt sich jedoch die Frage, woher kommen die Farben? Die hat er sich doch nicht einfach aus den Fingern gezogen.
Abb. 2: Die Streifen in Nahaufnahme [13]
Die Farben entstammen dem bekannten Tool ColorBrewer [14]. ColorBrewer ist ein Werkzeug zur Entwicklung optimaler Farbpaletten für kartografische Darstellungen. Hawkins Anspruch war es, dass die Paletten die Daten genau und klar darstellen sollten. Achtung Grafikdesignergeschwurbel: Bei den verwendeten Farben handelt es sich genau genommen um die acht am stärksten gesättigten Blau- und Rottöne aus den ColorBrewer-9-Class-Single-Hue-Paletten.
Ein weiterer Faktor für die Beliebtheit der Farbstreifen ist, dass sie einfach gut aussehen. Sie tragen zwar eine schwerwiegende Botschaft, aber weil sie so schnieke sind, präsentiert man sie gerne mal nach außen oder in den heimischen vier Wänden. Auch Ed Hawkins gibt zu, dass „die Wahl der Farben eine ästhetische Entscheidung war“, denn er findet „sie sehen genau richtig aus“.
Selbst die Berechnungen im Hintergrund wurden mit Fokus auf das visuelle Ergebnis durchgeführt. Hawkins bezieht sich auf den Zeitraum 1971–2000 als Referenz, weil dieser Zeitraum ungefähr die Mitte der bisherigen Erwärmung darstellt, d. h. den Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur zwischen 1850 und (damals) 2018. Eine Referenzperiode...